1935
C. A. Loosli an Josef Messinger,
Prediger der Israelitischen Kultus Gemeinde Bern, 26.9
den 26.September 1935.
Herrn Joseph Messinger, Prediger der
Israelitischen Kultusgemeinde
Bern.
16. Mühlemattstrasse.
Sehr geehrter Herr Messinger, ich habe absichtlich
bis heute gewartet um auf Ihre Zeilen vom 23. d.M. zu antworten, in der Hoffnung, es würde bis spätestens heute wenigstens von einer Seite Bescheid einlaufen, der mich ermächtigt hätte, Ihnen auch nur einigermassen erfreulicheres mitzuteilen als es nun der Fall ist.
Mit andern Worten, Protestkundgebungen gegen die neuen niederträchtigen Judengesetze sind m.W. in der Schweiz nicht nur von keiner Seite geplant, sondern hätten, falls sie dennoch stattfinden sollten, alle Aussicht behördlich verboten zu werden, da wir ja bekanntlich neutral sind und uns infolgedessen nicht in die inneren Angelegenheiten eines „befreundeten Nachbarstaates“ zu mischen haben. Selbstverständlich wird es mich freuen, die Bekanntschaft Dr. Klatzkins zu machen; immerhin wollen Sie ihn verständigen, dass ich am 2. sowie am 6.-11.Oktober abwesend sein werde.
Ich bin offen gestanden tief entmutigt und ratlos. Die vom anschwellenden Nationalsozialismus in der Schweiz am nächsten bedrohten Menschen und Gemeinschaften unterschätzen die ihnen bereits an der Nase hängende Gefahr in geradezu unverantwortlicher und leichtfertiger Weise und sind auch nicht zur geringsten, aber grundsätzlichen und gemeinsamen Abwehrbewegung zu gewinnen. Wenns dann wieder einmal zu spät sein wird, dann werden sie schimpfen und heulen und alles vorausgesehen und gesagt haben wollen. Und dann wird’s zu spät sein.
Das einzig Erquickende, das mir in der letzten Zeit widerfuhr, war Ihr so mannhafter, scharfer und gerechter Artikel im Bund, der sich selbst einmal ehrte, indem er ihn nicht nur aufnahm, sondern ihn an leitende Stelle verwies.
In allem übrigen bin ich gelähmt, mundtot und bis heute handlungsunfähig gerade von denen gestaltet, die, da sie es ja selber aus Nassehosenpolitik und Eigenbrödelei nicht zu Stande bringen, doch wenigstens die paar wenigen Leute nicht noch lähmen und sabotieren sollten, die ihre eigene Haut für sie einsetzen.
Aber einzig wichtig ist für uns ja nicht etwa der Bestand unseres Landes als volksherrschaftlicher Volks- und Freistaat, sondern wer demnächst am meisten Nationalratssessel ergattert.
Wir sind der Feigheit und der optimistischen Blindheit rettungslos ausgeliefert, so dass ich bloss wünsche, die Nazikugel, die mich ja doch gelegentlich „auf der Flucht“ erreichen möchte, liesse nicht auf sich warten, bis ich den völligen Zusammenbruch des Landes geschaut habe.
Leben Sie herzlich wohl und empfangen Sie die besten Grüsse Ihres immerdar
ergebenen
C.A.Loosli