(Eine Kontroverse zwischen Dr. Fritz Pesch von der Vormundschaftsbehörde in Zürich und C.A.Loosli)
1938
1938
(Eine Kontroverse zwischen Dr. Fritz Pesch von der Vormundschaftsbehörde in Zürich und C.A.Loosli)
Der Artikel Looslis hat viel Staub aufgewirbelt. Aus einer grossen Zahl von Zuschriften erteilen wir einem besonders ausgewiesenen Einsender das Wort:
In Nr.11 Ihrer Zeitschrift veröffentlicht C.A.Loosli, Bümpliz, einen Artikel unter dem Titel „Schweizerische Konzentrationslager und Administrativjustiz“, worin er sich dagegen wendet, dass durch Verwaltungsbehörden, ohne gerichtliches Verfahren Leute in Anstalten eingewiesen werden können.
Diesen Artikel muss der Unterzeichnete, so sympathisch ihm Loosli in politischer Hinsicht ist, als fast völlig verfehlt bezeichnen.
Der Unterzeichnete, Jurist, amtet seit 8 Jahren an einer Vormundschaftsbehörde im Kanton Zürich. Er hat in zahlreichen Fällen mitgearbeitet, in denen Leute für 2, 3 und mehr Jahre in Anstalten versorgt wurden, und er hat dabei ein gutes Gewissen. Am 24.Mai 1925 nahmen die Stimmberechtigten des Kantons Zürich mit 84000 gegen 19000 Stimmen das Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern an.
Nach diesem Gesetz können durch vormundschaftliche Behörden oder Armenpflegen, durch letztere nur mit Zustimmung des Bezirksrates, in folgenden Fällen Versorgungen vorgenommen werden:
1. Jugendliche von 12-19 Jahren, die sittlich verdorben oder gefährdet sind, oder die ihren Eltern oder Vormündern hartnäckigen und böswilligen Widerstand leisten, können in eine Familie oder Anstalt eingewiesen werden.
2. Personen von 18-30 Jahren, die einen Hang zu Vergehen bekunden, liederlich oder arbeitsscheu sind, aber voraussichtlich zur Arbeit erzogen werden können, kommen in eine Arbeitserziehungsanstalt, wo sie einen Beruf erlernen. Wenn die Einweisung in einer Arbeitserziehungsanstalt wegen der besondern Eigenschaften des Einzuweisenden (z.B. Durchbrenner, Gemeingefährlichkeit) nicht möglich oder erfolglos geblieben ist, oder von Anfang an aussichtslos erscheint, erfolgt Einweisung in eine Verwahrungsanstalt (z.B. in die Strafanstalt Regensdorf).
3. Personen, die durch Trunksucht sich oder andere gefährden, oder ihre
Familienpflichten dauernd vernachlässigen, oder öffentliches Ärgernis erregen, sind, falls heilbar, in einer Trinkerheilanstalt, falls unheilbar, in einer Pflege- oder Versorgungsanstalt zu versorgen.
Eine Ergänzung zum Versorgungsgesetz bildet Artikel 421 Ziffer 13 des Zivilgesetzbuches, wonach Bevormundete mit Zustimmung der Vormundschaftsbehörde in einer Erziehungs-, Versorgungs- oder Heilanstalt untergebracht werden können. Hier handelt es sich meist um die Versorgung Geisteskranker. Oberste Rekursinstanz ist in allen Fällen die kantonale Justizdirektion.
Die Notwendigkeit solcher Massnahmen nicht einzusehen, erfordert schon ein unzulässiges Mass von Weltfremdheit. Nehmen wir den Fall des Menschen, der einen Hang zu Vergehen bekundet, also des immer wieder rückfälligen Verbrechers. Man muss dabei durchaus nicht an Schwerverbrecher, wie Räuber und Einbrecher, denken; es kann sich auch um kleine Schwindler, Velodiebe und dergleichen handeln. Für jedes dieser kleinen Delikte kriegt so ein Haltloser vielleicht 4 Wochen Gefängnis, wird entlassen, und delinquiert wieder. Wenn man bedenkt, welch unsägliches Leid diese Leute über ihre Opfer bringen, wie schwer ein Dienstmädchen den Verlust von abgeschwindelten 200 Franken, oder ein armer Mann den Diebstahl seines Velos empfindet; wenn man ferner erlebt, wie solche Delikte oft gar nicht aus Not, sondern zur Deckung der Auslagen für einfältige Gelüste begangen werden, dann muss man doch nach dem 5. oder 6. Delikt eines solchen Burschen ausrufen: Jetzt aber Schluss, und für zwei Jahre in eine Anstalt mit ihm!
Vollends unentbehrlich ist das Versorgungsgesetz Trinkern gegenüber. Angesichts des unheimlichen Ausmasses des Alkoholismus in der Schweiz sind hier die gesetzlichen Handhaben noch viel zu mild. Man muss solche Fälle dutzendweise behandelt haben, um das nachempfinden zu können. Wenn ein brutaler Familienvater, Trinker und Blauenmacher, immer wieder nachts grölend und betrunken heimkommt, sich in der Wohnung erbricht, vor den Augen der Kinder die Frau schlägt, so muss es doch als eine wahre Wohltat empfunden werden, wenn die Vormundschaftsbehörde eines Morgens um 6 Uhr die Sanitätspolizei schickt und den Mann zwecks Versorgung abholen lässt. Würde man bei der heutigen Gesetzgebung die Sache den Gerichten überlassen, so bekäme ein solcher Trinker vielleicht nur eine Busse wegen Nachtruhestörung. Überhaupt wäre das gerichtliche Verfahren für solche Fälle zu langsam und zu schwerfällig. Jedenfalls müsste der Mann zuerst eingesperrt und dann das Verfahren zu Ende geführt werden, sonst könnte er ja aus Zorn über das Verfahren die Familie zu Tode plagen. Aber in dem famosen Verfassungsartikel, den C.A.Loosli skizziert, wäre ja kaum Raum für eine Untersuchungshaft.
In Frankreich passieren verhältnismässig oft aufsehenerregende Bluttaten „en famille“. Eine Tochter erschlägt den Vater, eine Frau erschiesst den Gatten. Der Unterzeichnete hat einige dieser Fälle verfolgt und festgestellt, dass die Täter jeweils freigesprochen wurden, weil ihre Tat, nicht juristisch, aber menschlich, nur eine Notwehr darstellte gegen ein tyrannisches, mangels genügender Administrativjustiz ungehemmtes Familienoberhaupt. Seien wir froh, dass wir Verwaltungsbehörden haben, die bei unhaltbaren Zuständen rasch und ohne Umstände eingreifen können. Der Unterzeichnete darf für den Kanton Zürich in Anspruch nehmen, dass hier bei aller Raschheit nicht leichtfertig versorgt wird, schon aus dem Grunde nicht, weil jede Versorgung, weit entfernt, lukrativ zu sein, wie Loosli meint, der Öffentlichkeit schwere Lasten auferlegt.
Der Unterzeichnete weiss, dass, direkt oder indirekt, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu einem grossen Teil schuld daran sind, dass es Gewohnheitsverbrecher, Trinker, Geisteskranke gibt. Er mag auch diese Leute moralisch nicht verurteilen. Aber ihre Familie, ihre Umgebung hat ein Recht darauf, vor ihnen geschützt zu werden. Falsche Humanität gegenüber den Haltlosen wäre Brutalität gegenüber ihrer Umwelt. Die eine Forderung Looslis ist aber berechtigt, dass der Aufenthalt in den Anstalten selbst human zu gestalten sei. Im Gebiete des Kantons Zürich ist diese Forderung erfüllt.
Die Vormundschaftsbehörden arbeiten auf der Schattenseite des Lebens. Sie haben Einsicht in Verhältnisse, die anderen abgehen. Kritiker sollten sich deshalb vorerst informieren, bevor sie durch ihre gutgemeinten, aber abwegigen Artikel Querulanten und asoziale Elemente zum Widerstand ermuntern. Dafür, dass die Administrativjustiz nicht missbraucht wird, hat das Volk durch sorgfältige Auslese bei der Wahl der zuständigen Beamten zu sorgen.
VORLÄUFIGE SUMMARISCHE ANTWORT AN HERRN DR. PESCH
(Die Verantwortung für die Ausführungen überbindet der Beobachter ausdrücklich Herrn Loosli).
Es ist schlechterdings schon rein materiell unmöglich, den nun entbrannten Streit um die „Administrativjustiz“ und die schweizerischen Konzentrationslager in all ihren Beziehungen und Phasen vermittels weniger, kurzer Presseartikel auszutragen. Dazu ist die Frage einmal zu ernst, dann aber auch zu vielseitig. Sie erstreckt sich auf allzu viele Gebiete, nicht nur rechtlicher, sondern auch gesellschaftlicher, sittlicher und ethischer Natur. Aus diesem Grunde, das heisst, um eine eigentliche Erörterungsgrundlage zur Abklärung der uns beschäftigenden Belange erst einmal umschreibend zu bieten, bereite ich gegenwärtig eine längere Schrift vor, von der ich hoffe, sie werde demnächst erscheinen und Freund wie Gegner willkommen sein. Dies um so mehr, als ich meine Meinungen und Feststellungen daselbst mit aktenmässig belegten Beispielen und Zeugenaussagen aus der „administrativjustiziären“ Praxis erhärten werde.
Ich werde daher an dieser Stelle Herrn Dr. Pesch nur kurz folgendes antworten:
1. vermisse ich in seinen Ausführungen vor allem seine Stellungnahme zur verfassungs-, menschen- und bürgerrechtlichen Seite der „Administrativjustiz“, die denn doch, will mir scheinen, in einem demokratischen Rechtsstaat die wichtigste und grundlegendste sein dürfte;
2. hat er in seiner Antwort so ziemlich der besten Argumente alle ins Feld geführt, die wohl die Versorgung von Lasterhaften, Trunksüchtigen und aus irgendwelchem Grunde Freiheitsunfähigen, nicht aber die „Administrativjustiz“, ihre Verfahren und ihren Vollzug zu rechtfertigen vermögen. Das aber sind zwei ganz verschiedene Dinge, die unter keinen Umständen miteinander verwechselt werden dürfen, anders wir jegliche ordentliche Rechtspflege überhaupt von heute auf morgen verabschieden müssten;
3. ist es nicht richtig, dass die „Administrativjustiz“ nur die in seinem Artikel unter Ziffer 1-3 bezeichneten Personen erfasst und ihrer Freiheit beraubt. So ist beispielsweise gerade gegenwärtig im Kanton Zürich seit Juni 1937 Herr Dr. Johann Stephan Hegner seiner Freiheit beraubt. Er befindet sich in einer Irrenanstalt in Kilchberg, ist eines untadeligen Leumundes teilhaftig, daher in keiner Weise unter den von Herrn Dr. Pesch unter Ziffer 1-3 seiner Ausführungen bezeichneten Personen unterzubringen. Sein Vergehen besteht lediglich darin, dass er sich, in allerdings temperamentvoller, heftiger Weise, in einen durchaus sachlichen Streit über eine Interpretationsfrage des Medizinalgesetzes mit der Universität Zürich eingelassen hat, das weder dieser noch den Zürcher Behörden passte. Den genaueren Tatbestand, den ich einem Rundschreiben des Rechtsanwaltes des Internierten, Herrn Dr. Vital Schwander, z.Zt. Landammann des Kantons Schwyz, entnehme, werde ich, mit zahlreichen anderen, in meiner vorerwähnten Schrift eingehend erörtern.
4. ist es keineswegs richtig, dass die „Administrativjustiz“ unentbehrlich oder auch nur zur Beschleunigung des Verfahrens erforderlich sei. Denn gerade die Regierung des Kantons Bern, der mit der „Administrativjustiz“ im allgemeinen einen unverantwortlich lästerlichen Unfug treibt, hat durch ihren Beschluss, betreffend die administrative Versetzung Jugendlicher in die Erziehungsanstalten vom 27.Juni 1933 den sowohl rechtlichen als praktischen Beweis des Gegenteils erbracht. Laut diesem Beschlusse darf nämlich kein Jugendlicher (16-20 Jahre) auf einem anderen Wege als auf dem der ordentlichen Jugendgerichtsbarkeit, vertreten durch eine Justizperson, den Jugendanwalt, interniert werden.
Die bisherigen Ergebnisse haben erwiesen, dass sich dieses Verfahren wohlfeiler, rascher und zweckmässiger bewährt. Also ist die „Administrativjustiz“ auch in dieser Hinsicht nicht nur entbehrlich, sondern sie wirkt in jeder Beziehung unzweckmässig und gemeingefährlich, welches ich ebenfalls in vorerwähnter Schrift ausführen und belegen werde.
Angesichts des mir hier zur Verfügung stehenden allzu knappen Raumes und meiner womöglich demnächst erscheinenden Schrift glaube ich mich für heute mit vorstehenden Feststellungen begnügen zu dürfen, da ich auf alles Weitere später sachlich und eingehend zurückgreifen werde.
C.A.Loosli