1951
Neue Kampfziele.
Vortrag vor der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft Bern (Auswahl)
(…) Antisemitismus bedeutet ja, wie jede sture, fanatische Unduldsamkeit, bei Lichte besehen, immer das stillschweigende Einverständnis eigener Minderwertigkeit und Schwäche. Wo wir nur, seit den Tagen des Rektors Ahlwardt, des Oberhofpredigers Stöcker, des Wiener Bürgermeisters Lueger, die kritische Sonde anlegen, offenbart sich immer ihre und ihrer Anhänger Angst vor irgendwelcher jüdischer Überlegenheit, namentlich auch auf geistigem und ethischem Gebiet.
Der Antisemit reiner Observanz darf den Juden schon darum nicht dulden, geschweige denn ihm Gleichberechtigung zuerkennen, weil er mit Recht zu befürchten hat, von ihm überflügelt, in den Schatten gestellt zu werden.
Dazu hat er als ausgesprochener Herden- und Schlagwortmensch freilich allen Grund ! Wo man ihn nur anbohrt und sondiert, erweist er sich irgendwie geistig oder sittlich defekt und zwar häufig in einem Ausmasse, das ihn daran verzweifeln lässt, sich auf dem Wege freien, unbehinderten Wettbewerbes mit gleichen Chancen den von ihm gehassten Juden gleich zu stellen.
Folglich bleibt ihm, zu seiner Selbstbehauptung und zu seiner Rechtfertigung vor sich selbst, bloss der Trug, oder, da wo er sich von der slogangläubigen Masse hinreichend unterstützt fühlt, die Anwendung nackter, brutaler Gewalt übrig.
Wie bedenkenlos, wie gewissenlos grausam und hart er sich ihrer bedient, davon zeugen die vom Dritten Reich verschuldeten, bisher in der Weltgeschichte unerhörten Judenverfolgungen, die sechs Millionen Menschenleben kosteten, welche das Weltgewissen für alle Zukunft unsühnbar schwer belasten.
Und nun, just in jenen schrecklichen Tagen, da sich die Nachrichten über massenweise Deportationen, bestiale Quälereien und Vergasungen von Juden überstürzten, als sich in den deutschen Konzentrationslagern die Untaten der entmenschten Meuchelmörder Himmlerscher Prägung häuften, die jedem sittlich gerade gewachsenen Menschen das Blut vor entsetztem Grauen in den Adern erstarren liess, da versagte die angeblich so freie, so unabhängige Schweiz, das weiland gelobte Land geheiligten Asylrechts in derart schmählicher Weise, dass uns die Erinnerung daran noch heute die Schamröte in die Wangen treibt.
Zu Tode gehetzte Flüchtlinge, die bei uns Rettung und Obdach suchten, wurden massenweise von unsern Grenzen zurückgewiesen, bedenken- und schonungslos den schlimmsten Foltern preisgegeben, dem sicheren, entsetzlichen Ende ausgeliefert ! Angeblich, weil wir, die wir wohl Einschränkungen, aber keinen eigentlichen Mangel erlitten, die Armen nicht zu ernähren vermochten; – in Wirklichkeit aber aus feiger Angst, das Missfallen der grössenwahnsinnigen vertierten Machthaber des Dritten Reiches zu erregen, oder aus mehr oder weniger ausgesprochener Sympathie unserer nationalsozialistisch angeseuchten, leider allzuhochmögenden Eidgenossen, mit den Schickelgruberschen Methoden !
Dabei hatten wir unsere Armee mobilisiert und, dank der umsichtigen Fürsorge unseres Generals Henri Guisan, wären wir in der bevorzugten Lage gewesen, allfälligen Angriffen erfolgreichen Widerstand entgegen zu setzen !
Man zog es jedoch vor, mit unsern Quislingen und ihren deutschen Hintermännern zu liebäugeln und sie an höchster, amtlicher Stelle in feierlicher Audienz zu empfangen !
Diejenigen Flüchtlinge aber, die wir von unseren Grenzen nicht zurückwiesen, die wurden bei uns ebenfalls in Konzentrationslager gesteckt, deren Leitung und Betrieb sich, wie es sich nachträglich herausstellte, wenig von denen unserer rückständigsten Strafanstalten unterschieden.
Gewiss, die Stellung unserer obersten Behörden war zu jener Zeit keineswegs beneidenswert leicht. Es mag zugestanden werden, dass Rücksichten sowohl auf unsere zahlreichen Landsleute in den nationalsozialistischen Machtbereichen, wie auch auf unsere Landesversorgung weithinreichend geboten waren und jenen gewiss Zurückhaltungen auferlegten, die schlechterdings unumgänglich gewesen sein mochten. Dass aber diese Zurückhaltungen in eigentlicher Feigheit, wenn nicht gar in noch Schlimmerem ausmündeten, das wird uns vor Zeit und Nachwelt immerdar schwer belasten und zwar umso schwerer, als von einem einzigen Mann der praktische Beweis erbracht wurde, dass und wie man es hätte anstellen können, zwischen Scylla und Charybdis ziemlich unbehelligt durchzulavieren. Dieser Mann, dessen Angedenken in den Annalen reiner Menschlichkeit mit unvergänglichen, goldenen Lettern eingetragen bleibt, war der damalige Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, der hochherzige Saly Mayer in St.Gallen, der 200000 Glaubensgenossen, sage zweihunderttausend Menschenleben vor der ihnen anders zugedachten, sicheren Vernichtung rettete ! Er tat es vermöge seines warmen, menschlichen Herzens, seiner diplomatischen, darum aber nicht weniger mutigen Kunst, um die ihn unsere Massgebenden beneiden müssten, verfügten sie über die dazu benötigten ethischen Organe.
Denn keiner wird doch im Ernste glauben, dass, was einem Privatmann aus eigenem, edlen Antrieb möglich wurde, einer Landesregierung, hinter der ein wohlbewaffnetes Heer von mehreren Hunderttausend Mann und die öffentliche Meinung aller redlichen Eidgenossen entschlossen standen, bei einiger Einsicht und gutem Willen versagt geblieben wäre !
Es ist uns heute ebenso peinlich daran erinnert zu werden als daran erinnern zu müssen und nur widerstrebend greifen wir auf dieses, eines der düstersten Kapitel der Geschichte unseres Landes zurück.
Was uns jedoch trotzdem dazu nötigt, beruht auf dem Umstand, dass seither, seit 1945 also, da wir nichts mehr vom schlimmen, nördlichen Nachbarn zu befürchten haben, der Antisemitismus in unserem Lande nicht verdämmert ist, sondern, ob auch uneingestanden, getarnt und unterirdisch, geil und üppig weiter wuchert und uns heimtückisch vergiftet.
Der Umstand allein, dass ich und Sie, zu welchen zu sprechen ich heute die Ehre habe, es als geboten erachteten, die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft ins Leben zu rufen und ebenso weithinreichend als vielseitig zu betätigen, erbringt den hinreichenden Beweis für die Notwendigkeit stets erneuter, stets fortgesetzter, stets verstärkter Abwehr des Antisemitismus. (…)