1906
Zur Frauenemanzipation
In: Berner Bote, Bern, Nr. 31, 18.4.
Wenn sich auch die Sturmeswogen der ersten Frauenbewegungen noch nicht vollständig geglättet haben, so drängt sich doch die Tatsache auf, dass die Frauenbewegung der Gegenwart entschiedene Neigung bekundet, allgemach in ruhigere Bahnen einzulenken. Die Vorkämpferinnen für Frauenrechte werfen nicht mehr so viele schmetternde Schlagwörter in die Masse, sondern sie stellen eine Reihe wohlüberlegter, zielbewusster Postulate und Forderungen auf, an deren Verwirklichung sie allen Ernstes arbeiten. Der allezeit lustige Ludwig Thoma würde heute schwerlich mehr behaupten, dass „das Recht der Frau da anfange, wo ihr Recht auf den Mann aufhört“.
Von dem Augenblicke an, wo die revolutionäre Frauenfrage durch eine evolutionäre ersetzt wird, eine Beruhigung in den erhitzten Gemütern eintritt, planloses Schreien ruhiger Überlegung das Feld räumt und sich in bestimmte Formeln kleidet, dürfen wir nicht mehr gleichgültig bleiben. Die luftige Chimäre kristallisiert sich allgemach zu einem Faktum, welches wir zu prüfen, zu diskutieren haben, und wenn wir ehrlich sein wollen, so sehen wir uns genötigt, Stellung dazu zu nehmen.
Ist es wahr, wie die Frauenrechtlerinnen behaupten, dass ihr Geschlecht dem unsrigen nicht gleichgestellt sei? Dies ist die erste, sich aufdrängende Frage, und es gibt nur eine Antwort darauf: „Es ist tatsächlich so!“ Obwohl die Frau wie der Mann ein integrierender und unentbehrlicher Bestandteil des Staates ist, hat nur der Mann ein direktes Bestimmungsrecht über dessen Organisation, ein Recht, das er vermittelst seines Wahl- und Stimmzettels ausübt. Dies hat zur Folge, dass unsere gesellschaftlichen Zustände ausschliesslich zugunsten des Mannes zugeschnitten sind. Daher steht dem Manne eine reichlich bemessene Menge von Erwerbsquellen zur Verfügung, welche der Frau verschlossen bleiben. Daraus geht die ökonomische Ungleichheit der Geschlechter hervor. Unsere gesamte Rechtsanschauung hat uns folgerichtig dahin geführt, das Weib in der Regel nur als ein Attribut des Mannes zu betrachten. Was Wunder, dass die erste Frauenbewegung zunächst in dem Schlagworte „Los von dem Manne!“ ihren Ausdruck fand.
Die zweite Frage lautet: Ist dieser Zustand begründet?
Darauf gibt es wiederum nur eine Antwort, und die lautet: „Nein, es sei denn, dass die physische Gewalt als ein rechtlicher Grund angesehen werde!“
Der Knechtungszustand des Weibes ist unlogisch und ungerecht, weil er naturwidrig ist. Wäre dies nicht der Fall, so hätte die Natur den Mann omnipotent geschaffen. Da dies aber nicht ist, resultiert daraus, dass nicht der Mann und nicht das Weib der Mensch ist, sondern dass der Mensch Mann und Weib ist. Das Zusammenwirken der beiden Geschlechter allein bedingt das Bestehen der Menschheit, und jedes Geschlecht verhält sich zu dem andern wie eine Null, welcher erst durch das Hinzufügen einer Zahl gewertet wird. Gleiche Naturnotwendigkeit bedingt gleiche Existenzberechtigung, dies ist ein Fundamentalgesetz der Natur. Die Annahme, das weibliche Geschlecht sei dem männlichen Attribut, fällt also in sich zusammen, indem das vollständige Fehlen eines Attributes nicht die Existenzfähigkeit des Subjektes verunmöglicht. Weil ein Geschlecht für sich allein nicht arterhaltend ist, ist es dem andern gleichwertig.
Wenn nun dennoch von Gegnern der auf Gleichberechtigung mit dem Manne hinzielenden Frauenbestrebungen geltend gemacht wird, das männliche Geschlecht sei superior, so beweist dies eine merkwürdige Verkennung der menschlichen Naturbestimmung.
Auf intellektuellem und rein psychischem Gebiete ist die Entwicklungsstufe des Durchschnittsmannes und des DurchschnittsWeibes ungefähr dieselbe. Der Unterschied beruht nur in der Art der Äusserung der Psyche und des Intellekts, welche bei den beiden Geschlechtern verschieden sind. Während auf physischem Gebiet das Weib produzierend und der Mann konservierend wirkt, ändert sich die Sachlage auf dem Boden des Immateriellen. Da ist das Weib das befruchtende, zu jeder Tätigkeit anfeuernde Element. Es wäre von der Menschheit hell nichts geleistet worden und könnte nichts geleistet werden ohne die seelische Befruchtung des Weibes. Was bleibt von unserer gesamten Kultur, wenn wir uns seinen Einfluss wegdenken? Was wären Literatur, Kunst ohne das Weib? Aber noch mehr! Auch wenn es dem Manne möglich wäre, seine Art ausserhalb der Mitwirkung des Weibes fortzupflanzen, glaube ich nicht, dass jemals die Notwendigkeit an ihn herangetreten wäre, auch nur das einfachste Werkzeug anzufertigen. Denn alles, was der Mensch errungen hat, sind Früchte der Notwendigkeit.
Wenn nun das Weib trotzdem einen dem Manne untergeordneten Rang einnimmt, so beweist dies einzig und allein, dass die Menschen von ihrer Naturbestimmung abgewichen sind und eine Vergewaltigung der Naturgesetze seitens des Mannes stattgefunden hat. Nur brutale physische Gewalt vermochte das Recht der Natur mit Füssen zu treten. Das männliche ist das physisch stärkere Geschlecht. Das erklärt alles. Zwar glaube ich nicht, dass von Natur aus das weibliche Individuum an körperlicher Stärke und Ausdauer dem männlichen nachstehe. Der Mann gewann dem Weibe einen Kräftevorsprung ab, weil er beweglicher ist. Das Weib lebt ein viel intensiveres und andauernderes Geschlechtsleben als der Mann. Während gewisser Perioden ist es wehrlos, und dies gab dem Manne Gelegenheit, seine Übermacht zu schaffen. Denn das sogenannte schwache Geschlecht ist in der Regel physisch und psychisch widerstandsfähiger als die sogenannten Herren der Schöpfung.
Die angebliche Superiorität des Mannes reduziert sich infolgedessen auf eine Vergewaltigung und ist weiter nichts als ein Vorurteil, welches das Weib zum Nutztier und Lustapparat des Mannes herabwürdigte.
Wenn behauptet wird, das Weib stehe intellektuell unter dem Manne, so mag dies heute, wo die jahrhundertelange Anwendung dieses Vorurteils das Weib zur mehr oder weniger ausgesprochenen Marktware herabwürdigte, vielleicht der Fall sein. Es mögen sich einzelne Fähigkeiten des Weibes im Laufe der Zeit durch Nichtgebrauch abgestumpft haben, allein, dies beweist nur die Berechtigung des Weibes, das Verlorene wiederzugewinnen. Ursprünglich war das Verhältnis ein wesentlich anderes.
Gerade durch die Erkenntnis, dass eine Atrophie weiblicher Fähigkeiten stattgefunden hat, wurde der modernen Frauenbewegung die zur Wiedererlangung derselben erforderliche Taktik vorgezeichnet. Der erste Entrüstungssturm, welchen die Erkenntnis brachte, ist vorbei; das Weib hat eingesehen, dass die Gleichberechtigung mit dem Manne nicht auf dem Wege der Revolution gegen ihn zu erreichen ist, weil er die brutale Gewalt für sich hat. Die ursprüngliche Bewegung hatte auf ihre Fahnen geschrieben: „Los vom Mann!“
Die heutige Bewegung appelliert an das Edelste im Menschen und will „mit dem Manne“ arbeiten an der Befreiung der Frau. Dieser Bewegung muss man sympathisch gegenüberstehen, denn es ist eine gemeinsame Aktion gegen ein Vorurteil, das dem Manne nur den Schein eines Vorteils brachte und ihm sein wirkliches, inneres Glück raubte, denn es gab ihm, statt eine Gefährtin, eine Magd. Das Vorurteil ist unser Feind, ohne Unterschied des Geschlechtes, und wir leben in einer Zeit, welche Anstalten trifft, ihm auf den Leib zu rücken. Bleiben wir deshalb nicht zurück und kämpfen wir, Schulter an Schulter mit unseren Frauen, seien wir der Zeit würdig. Die Befreiung des Weibes wird auch unsere Befreiung sein.