Im: Berner Boten, Nr.35, 3.5.
Wie soll man Kinder strafen?
Ein Leser, bezugnehmend auf unsern Artikel über die „Verrohung der Jugend“ (vide Nr. 31 dieses Blattes) schreibt uns u.a. wie folgt: „Sie sagen ferner, das Kind müsse das von ihm begangene Unrecht als solches empfinden, anders ihm die Strafe als eine Vergewaltigung erscheinen müsse. Sie verlangen ferner, dass zwischen Strafe und Vergehen ein Kausalzusammenhang bestehe. Wenn die logische Kette (so glaube ich wenigstens recht verstanden zu haben) zwischen Strafe und Vergehen für das Begriffsvermögen des Kindes nicht bestehe, dann habe die Strafe ihren Zweck verfehlt, dann sei sie Rohheit; Sie führen ein Beispiel an, wie Sie sich diese logische Strafe ungefähr denken, indem Sie sagen, wenn das Kind lügt, dann darf es nicht geprügelt werden, weil zwischen Lüge und Prügel kein logischer Kausalzusammenhang besteht, sondern Sie wollen das Kind dadurch zur Wahrheitsliebe bringen, indem Sie seinen Aussagen bis auf weiteres ostentativ keinen Glauben schenken. Nach Ihnen soll dann das Kind durch den Schaden, den es durch den Vertrauensmangel erleidet, gebessert werden.
Erlauben Sie, Herr Redaktor ! Im Prinzip mögen Sie vielleicht den Schein des Rechtes haben, aber eine Erziehung, wie Sie sie hier vorschlagen, dürfte auch einem Engel praktisch unmöglich sein ! Ich bin gewiss kein Freund vom übermässigen Prügeln, finde aber doch, es gibt Momente, wo etwas anderes nicht ausreicht, wo nur Schläge, welche natürlich nie zu eigentlicher Misshandlung ausarten dürfen, das erstrebte Resultat erzielen. Es würde mich interessieren, zu vernehmen, wie Sie sich selbst eine solche Erziehung, wie die von Ihnen vorgeschlagene denken, und ob Sie selbst wirklich von ihrer Durchführbarkeit überzeugt sind…u.s.w.“.
Wir können unserm Leser nur antworten, dass wir allerdings von der Möglichkeit der Durchführung einer solchen Erziehung überzeugt sind, und wir dürfen diese Überzeugung schon deshalb um so höher halten als unser Einsender selbst sagt, dass wir „im Prinzip“ wenigstens den Schein eines Rechtes für uns hätten. Je nun, was im Prinzip richtig ist, sollte das in der Praxis sich als falsch erweisen ? Dazu bedürfe es mehr als Menschen, sagt unser Einsender, sogar Engel genügen ihm nicht.
Das heisst doch mit anderen Worten, dass wir Menschen zu unvollkommen sind, um vollkommene Kinder zu erziehen, und dass wir um so besser erziehen werden, je besser wir selbst erzogen sind. Wir sind durchaus der Meinung, dass die Erziehung des Kindes bei der Geburt seiner Eltern beginnt oder beginnen sollte und schliessen uns vollständig dem Worte Goethes an, der da sagt: “ Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn nur die Eltern erzogen wären !“ Aber wenn wir das erkennen, dann setzen wir doch, vorausgesetzt immer wir wollen wirklich das Beste unserer Kinder und nicht unsere eigene Bequemlichkeit, das vielleicht unvollständige Werk unserer eigenen Erziehung fort, um immer höher zu gelangen, immer berufener zu sein, neue Menschen, gute Menschen heranzubilden. Und um das zu können, um dahin zu gelangen, heisst es in erster und letzter Linie sich der Gerechtigkeit bestreben. Darin liegt alles. Gerechtigkeit nun erfordert von Fall zu Fall die Gedankenarbeit der Unterscheidung. Von Verfehlung zu Verfehlung der uns zur Erziehung überbundenen Kinder, werden wir, wollen wir gerecht sein, die uns als falsch erscheinende Tat gewissermassen in Gedanken zerlegen, auf ihre einzelnen Faktoren prüfen müssen. Wir dürfen uns nicht mehr auf unser rein spontanes Gefühl, das übrigens gegenüber den Begriffen von Gut und Böse ein rein relatives und subjektives ist, leiten lassen, sondern müssen uns in jedem einzelnen Falle in den Seelenzustand des Kindes hineinzudenken versuchen. Je mehr wir das versuchen, je öfter wird es uns gelingen; wir werden schliesslich die Kinder, welche wir erziehen sollen, kennen lernen, und ich denke doch, dass die primäre Bedingung zur Erziehung die genaue Kenntnis des zu erziehenden Objektes ist. Sind wir einmal so weit, dann seien wir selbst logisch, und unsere Logik wird, wenn sie wirklich unanfechtbar ist, dem Kind in Fleisch und Blut übergehen, es wird mit uns denken, mit uns fühlen, sich selbst erziehen, nur sachte und unmerklich geleitet von unserer höheren Erkenntnis. Die Frage, „wie soll man Kinder strafen ?“ fällt dann in sich selbst zusammen, denn wir sollen die Kinder nicht strafen, wir sollen sie zur Selbsterziehung anleiten, dann strafen sie sich eben selbst, indem sie sich gegen sich selbst verfehlen. Ich meine, die Strafe beim Kinde darf ihm nicht vorkommen als der Eingriff einer höheren Macht, sondern als eine in allen Phasen mitgefühlte und mitgelebte Erfahrung des Lebens. Denn Strafe an sich, sei es nun die Strafe des Kindes oder die Strafe des Verbrechers, ist, genau betrachtet, ein logischer Unsinn, der nur auf dem Prinzip des allgemeinen Nutzens, nie aber auf dem der Moral aufgebaut ist. Deshalb ist er auch so zählebig. Die erste Frage des Erziehers im Falle eines Vergehens seiner Zöglinge darf also, will der Erzieher auf seine Würde als Mensch und denkender Pädagoge nicht verzichten, niemals lauten: „Wie strafe ich am Kinde diese Unart, diesen Ungehorsam ?“ sondern „Wie bringe ich das Kind dazu, sich selbst zu bestrafen; wie bringe ich es dazu, unter den Folgen seines Vergehens d i r e k t zu leiden, so dass es einsehen lernt, nur durch meine Unart, nur durch meinen Ungehorsam, mein Vergehen erleide ich etwas Unangenehmes, das mir erspart geblieben wäre, hätte ich nur gewollt.“
Darum sind wir Gegner des Prügelns. Denn die Prügel können eintreten oder nicht eintreten, sie können, je nach dem Vergehen, je nach der Veranlagung des Kindes, zu verschieden bemessen werden, sie können im Falle der Nichtentdeckung des Verfehlens überhaupt ausfallen, also wird nur das Ertapptwerden bestraft. Ja, wenn wir den idealen Prügelstock hätten, der jedem das Seine, nicht mehr und nicht weniger, zumisst, dann wäre freilich die Erziehung keine Kunst mehr, dann wäre sie eine fein geregelte, nach Arbeitsstunden abzuzählende, handwerksmässige Beschäftigung, zu welcher es keiner Menschen, sondern nur einigermassen anständig gebauter Automaten bedürfte. So ist aber die Erziehung eine Kunst, die höchste Kunst sogar, und um sie zu üben, muss man eben Künstler, meinetwegen Lebenskünstler sein. Die Handarbeit des Prügelns muss der Geistesarbeit des Ergründens von Kinderseelen, der vollen Inspiration des künstlerischen Genius weichen, dann erst erziehen wir Menschen. Mit dem Backel in der Hand hat man bis heute immer nur Gesellschaftsautomaten erzogen. Man hat, um mich eines Bildes von Otto Ernst zu bedienen, dem Kind die vorschriftsmässige Anzahl von Nägeln eingeschlagen, und das gab allerdings ein ausgezeichnetes „Material“, auf welchem andere Leute spazieren gehen konnten. Wie gesagt, ich wünschte unseren Erziehungsmethoden (Methode ist ein Fremdwort für Faulheit) mehr Seelen- und viel, viel weniger Sehnenstärke.