1906
Patriotismus und Schule.
In: Berner Bote, Bern, Nr. 5, 17.1.
Das antimilitaristische Gespenst hat seine Schatten sogar bis in die Schule geworfen. Wie wir letzthin mitteilten, sehen sich die Schulbehörden bereits veranlasst, den in den Schülern schlummernden Patriotismus zu wecken, und im Kanton Neuenburg haben sich die Lehrer darüber ausgesprochen, ob es nicht am Platze wäre, in der Geschichtsstunde den patriotischen Samen mit noch volleren Händen als bisher zu säen. Wenn ich nicht irre, so haben sie beschlossen, und es wurde ihnen vom dortigen Unterrichtsdirektor ganz besonders anempfohlen, es zu tun. Das führt mich dazu, mich einmal eingehender über den Geschichtsunterricht in unsern Primarschulen und den sogenannten Patriotismus, der damit gefördert werden soll, auszulassen. Es gibt Worte (wer sagte es schon?), die jedem Gebildeten geläufig und jedem Denkenden unklar sind. Zu diesen gehört auch das in letzter Zeit so oft wiederholte Wort Patriotismus. Was versteht man eigentlich darunter?
Ist der Patriotismus jenes Gefühl, das uns erlaubt, uns im Glanze der Heldentaten unserer Vorfahren zu sonnen; ist es das ausgeprägt nationalistische Gefühl, das uns lehrt, wir Schweizer oder Berner oder Bümplizer seien eine ganz besonders von Gott begnadete Gattung von Menschen, gegenüber denen die andern alle Böotier oder Barbaren seien; oder ist der Patriotismus lediglich das Bewusstsein politischer und ökonomischer Zusammengehörigkeit mit dem Ziele des möglichst grossen Nutzgewinns für die Allgemeinheit des Volkes und infolgedessen mittelbar auch für den einzelnen? Oder ist der Patriotismus das rein seelische Moment der idealen Anhänglichkeit und Liebe an die Scholle, die uns werden sah, die uns unsere ersten Eindrücke vermittelte, die uns geistig und seelisch eine gerne reichlich spendende Mutter war, zu der wir voller Dankbarkeit aufblicken, mit der wir innig so verwachsen sind, dass ihre Zerstörung auch die unsere bedeutet?
Mit einem Worte: Ist der Patriotismus ein individuelles oder ein generelles Gefühl? Ist er das erste, dann brauchen wir das Fremdwort zu seiner Bezeichnung nicht, dann haben wir ein viel schöneres und treffenderes dafür, dann betätigen wir einfach unser Heimatbewusstsein, oder wem das zu nüchtern klingt, der mag sagen unsere Heimatliebe. Ist der Patriotismus aber das zweite, nämlich eine generelle Eigenschaft, dann lohnt es sich schon gar nicht, sich mit ihm zu befassen, dann ist er lediglich ein Ausdruck geistig engen Horizontes, dünkelhafter Selbstbeweihräucherung. Dann hat man ihm ein ideales Mäntelchen umgehängt und macht viele Phrasen um etwas, was im Grunde genommen auf ein rein praktisches Resultat hinausläuft, auf Gewinn- und Konkurrenzfähigkeit. Ehrlicher Gewinn und redliche Anstrengung, konkurrenzfähig zu sein und zu bleiben, sind jedoch an sich durchaus ehrenhafte Motive; wir dürfen sie uns, ohne zu erröten, eingestehen, weil sie Kinder der Notwendigkeit, Bedingungen des Lebens bilden. Aber warum, wenn wir uns ihrer nicht zu schämen brauchen, kleben wir ihnen Mätzchen mit idealem Anstriche auf? Beweisen diese Mätzchen nicht gerade das böse Gewissen des Patriotismus, der das Heimatbewusstsein ertötete und sich nun als dessen Ersatz aufdrängt? Ist nicht der sogenannte offizielle Patriotismus vielleicht ein Erwerbsmittel geworden, oder sagen wir, um mit den Amerikanern zu sprechen, eine Plattform, die eine Staffel zum Fortkommen einzelner bildet? – Hat das Heimatbewusstsein, ich meine das persönliche Verhältnis des einzelnen zu seiner Heimat, die kindliche Liebe zur Scholle, nicht in dem Masse abgenommen, wie der Patriotismus zunahm und sich breit mästete? Ich glaube, es sollte nicht schwer fallen, zu beweisen, dass dem so ist. Denn das treibende Motiv des Patriotismus ist Gewaltanwendung, ist Kampf, während die des Heimatbewusstseins sich in einer ausgesprochenen, ja fast ausschliesslich erhaltenden Tätigkeit äussert. Diese erhaltende Tätigkeit erstreckt sich auf alles, was dem heimischen Boden entsprang, auf seine Sitten, seine Sprache, seine Gebräuche, Trachten, Baudenkmäler, Naturschönheiten und Naturerzeugnisse. Indem wir voller Patriotismus davon abgewichen sind, haben wir uns als Volk unseres eigenen Selbst begeben, wir verloren unser Volkstum, um es an ein sogenanntes Nationalbewusstsein einzutauschen. Beweis: dass sich zum Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts eine eigene Liga bilden musste, um das, was noch von unserm Volkstum erhalten blieb, zu schützen, um das, was gefährdet ist, zu retten; ich meine die Liga für Heimatschutz und die Sprachvereine, die sich da und dort bilden und eine Schutzwehr bauen gegen den alles nivellierenden Patriotismus, der, so nationalistisch er sich auch gebärdet, viel internationalistischer ist und wirkt, als er es sich jemals eingestehen dürfte.
Und nun soll die Schule, und zwar speziell durch den Geschichtsunterricht, den Patriotismus fördern. Da ist die Frage schon am Platze: Welcher Patriotismus ist gemeint?
Meint man damit das Solidaritätsgefühl jener Produktions- und Konsumgenossenschaft, die man das Schweizervolk nennt, oder die Liebe, nicht zu den politischen und sozialen Einrichtungen, zu der staatlichen Ordnung, sondern die Liebe zu der Heimat selbst, zu ihrer Schönheit, zu ihren Eigenarten, zu ihrer Seele? Meint man den Patriotismus oder das Heimatbewusstsein?
Und wenn zufälligerweise das letztere gemeint sein sollte, kann man darin unterrichten? Was hat dann die Geschichte vergangener Geschlechter mit uns, den Kindern der Gegenwart, zu schaffen? Glaubt man denn wirklich, die Liebe zur Heimat in den Kindern zu fördern, indem man ihnen erzählt, wie unsere Vorfahren sich heroisch die Köpfe blutig schlugen, wie sie einander beraubten, überlisteten und betrogen? Müssen wir, ganz abgesehen von einigen schönen Charakteren, die wie helles, goldiges Sonnenlicht in das Dunkel unserer Geschichte hineinleuchten, uns nicht vielmehr abgestossen fühlen von all den Leuten, die unsere Vorfahren waren und die nichts Besseres zu tun wussten, als sich und andere zu befehden und aus der ursprünglich so schönen und freien Heimat ein Gefängnis zu machen, einen Staat darauf zu errichten, dessen leitender Gedanke jahrhundertelang nur der einer Macht, also einer Unterdrückungsfrage des Volkes war?
Ich muss offen gestehen – mag sein, dass ich ein aussergewöhnlich dummer Schüler war – , aber ich muss sagen, dass mir die Erinnerung an den Geschichtsunterricht, den ich in meiner Jugend genoss, im wesentlichen nur das eine beigebracht hat, nämlich dass je mächtiger, je rücksichtsloser, je brutaler ein Mensch ist, je weniger Gewissen er hat, um so grösser und erhabener er sich der bewundernden Nachwelt präsentiert, die so freundlich ist, ihn als Helden und Sieger zu verherrlichen. Wer nun glaubt, ich möchte den Geschichtsunterricht aus der Schule verbannt wissen, der tut mir schwer unrecht. Aber freilich, mit jenem blödsinnigen Geschichtsunterricht, der nur die brutalsten Instinkte weckt und pflegt und hätschelt und züchtet, mit dem freilich, der den noch blödsinnigeren Patriotismus aufblasen will, mit dem allerdings möchte ich zum Heil derJugend, zum Heil des Vaterlandes, unserer lieben, schönen Heimat, abfahren, und zwar lieber schon heute als erst morgen. Ich kann mir aber einen Geschichtsunterricht denken, der veredelnd und vor allen Dingen bildend wirkt, einen Geschichtsunterricht, der weniger auf die äusseren Ereignisse, die grossen Taten, als auf die Lebensweise und die Lebensbedürfnisse unserer Vorfahren Rücksicht nimmt, der an Hand des rein kulturhistorischen Materiales die Schandtaten besagter Vorfahren, die wir in der Geschichte verewigen, wenn nicht entschuldigt, so doch erklärt, sie uns menschlich näher bringt. Erst wenn sich die äusseren Ereignisse nicht nur im Leben vergangener Jahrhunderte, sondern auch in der Geschichtsstunde der Gegenwart logisch und streng aus den innern Bedürfnissen, den Seelenzuständen der Völker entwickeln, hat der Geschichtsunterricht einen politischen Wert, anders ist er nichts als ein grosses Tamtam auf einer hohlen Pauke. Lehrt einmal die Kinder begreifen, mit welch ursprünglichen Werkzeugen unsere Altvordern ihren Boden bearbeiteten, welchen Nutzen sie daraus zogen, wie ihre Werkzeuge eines nach dem andern entstunden und was es für sie bedeutete, das mühsam Errungene preiszugeben, treibt mit den Kindern den Kultus des Dinges, zeigt ihnen, dass jedes Werkzeug einer Not, jede Tat einem Preis entspricht, dann vielleicht wird es euch gelingen, wenigstens einige Spitzbübereien unserer Vorfahren in ein milderes Licht zu stellen. Wir haben in unserem Geschichtsunterricht, wenn von grossen Männern die Rede war, immer nur deren Statuen gesehen, und nie trat der lebendige pulsierende Mensch an uns heran. Wir sahen, und unsere Kinder sehen noch heute in den Gestalten des Tell, Winkelried, Waldmann, Bubenberg, ja sogar im sanften Niklaus von der Flüh, keine Menschen, sondern Reden aus einer sagenhaft fernen, unbegreiflichen Vorzeit; Recken, Halbgötter, alles, was ihr wollt, nur nicht Menschen wie ihr und ich, mit allen Bedürfnissen und Leiden und Freuden von Menschen wie ihr und ich.
Darum sind sie uns auch nie eigentlich sympathisch. Wir bewundern sie wohl, aber es ist eine mit Furcht und Skepsis durchsetzte Bewunderung.; wir bewundern sie – aber lieben können wir sie nicht. Bringen wir, indem wir sie ihnen verständlich machen, die Kinder dazu, die Helden der Vorzeit zu lieben, nicht als mythische Gestalten, sondern als Menschen, als unsere vorausgegangenen Nächsten, welche Gott uns befiehlt zu lieben wie uns selbst, dann wird unser Geschichtsunterricht erst dem Vaterlande frommen. Den Patriotismus stärken, den ich oben andeutete, wird er freilich nicht, aber eine Liebe zur Heimat, auf der so viel Menschliches, wenn auch oft auf tierische Weise, errungen und erstritten wurde, wird er in den Kindern wecken. Dann wird ihnen die Scholle, auf der sie im Geiste die längst verstorbenen Ahnen arbeiten sehen, lieber werden, dann werden sie begreifen lernen, was es heisst, eine Heimat zu besitzen. Der Geschichtsunterricht, wie wir ihn heute kennen, kann das nie tun und tut es nicht; zeigt er uns doch unsere Väter stets im Ratssaal oder auf dem Schlachtfeld, nur nie zu Haus, wo sie uns zuerst eine Heimat bauten, bevor sie sich gezwungen sahen, sie gegen fremde Eindringlinge zu schützen. Von dieser Seite angefasst, wird es sich bald zeigen, dass dem Heimatbewusstsein nicht bloss in der Geschichtsstunde, sondern in jeder Schulstunde viel mehr genützt werden kann, als man es sich bisher träumen liess. Es liegt nicht im Rahmen unseres heutigen Artikels, ein dahin zielendes Unterrichtsprogramm aufzustellen; das würde zu weit führen und wohl auch unsere Fähigkeiten übersteigen. Aber eine Frage sei mir doch erlaubt: Glaubt ihr nicht, dass die Liebe zur Heimat reger würde, wenn in der Schule das Volkslied statt der importierten fremden, ich meine volksfremden Musik gepflegt würde; wenn in der Schule unsern Kindern die Schönheit und der Reichtum unserer volkstümlichen Sprache, unserer Dialekte, erschlossen, wenn man im Zeichenunterricht, statt sich mit geraden Linien und Kurven abzuquälen, nach der Natur arbeiten würde, wenn man im Geographieunterricht, statt Namen von Orten und Flüssen und Bergen, Höhezahlen und Kilometerdistanzen, recht lebendige Schilderungen der Gegend, der Leute, die darin wohnen, ihrer Lebensbedingungen, ihrer Sitten und Gewohnheiten böte?